DIE TAUFE

Das Telefon klingelt. Jule (meine Vorgängerin) geht ran. Ich lieg totmüde in meinem Bett und verfolge das Gespräch nicht. Das war auch nicht nötig. Jule klopft, wartet auf mein „ok” und kommt rein. „Malte (der Biologe, mit dem wir die Wiesenweihen beringt haben) hat angerufen. Die Küken sind flügge und die Mutter sitzt nicht mehr auf dem Nest. Er würde sie heute Abend gern beringen.”
Ich sage ihr ehrlich, dass ich echt fertig bin und lieber gern schlafen würde. Sie antwortet, dass ich das am Nachmittag ruhig machen soll. Sie bräuchte nicht zur Beringung, weil sie jetzt schon zwei gemacht hätte. Katrin (andere Vorgängerin) hat ihren Bruder zu Besuch, weshalb sie auch ausscheidet. Damit ich schlafen kann, biete ich Jule an, mir nochmal Gedanken drüber zu machen.

Die Entscheidung steht: Jelisa und ich werden um 20 Uhr bei der Beringung helfen.
Wir fahren los - eher weniger motiviert, denn wir wussten, dass wir Ca 14 km fahren müssten und die Wahrscheinlichkeit dabei nass zu werden, relativ hoch wäre.
Keine Spur von Regen aber ebenso wenig von Malte. Wir warteten. Und warteten. Und warteten. 20:35 Uhr. Ich wurde langsam nervös. Jelisa hatte die Zeit mit lesen verbracht. Sie hatte kein Handy dabei und ich hatte weder Geld noch Internet.
20:40 Uhr. Sie schlägt vor bei Fremden zu klingeln, um zuhause anzurufen.
20:45 Uhr. Am dritten Haus macht eine ältere, sehr nette und verständnisvolle Dame die Tür auf und lässt uns telefonieren. Doch niemand hebt ab.
20:55 Uhr. Ich verlasse frustriert und wütend den Hof. Jelisa versucht mich zu beruhigen.
20:56 Uhr. Mir fällt eine blaue Schrift auf der Straße auf, als wir uns auf dem Rückweg machten.
„Nanu? Malte ist ja gar nicht da. Folgt den Pfeilen!"
Ich rechne damit, dass Malte seit ca. einer Stunde woanders wartet.
Ein roter Brief und meine Einsicht, dass wir geprankt wurden.
Kilometer für Kilometer folgen wir den Pfeilen auf der Straße, die uns zu roten Briefen und damit verbundenen Aufgaben führten. Ich hätte es nie für möglich gehalten, mich derart reinzulegen.
Unsere Aufgaben?
Plattdeutsch übersetzen, Kohl kaufen, Schafe zählen, Kreuzworträtsel, Selfie vor dem Sonnenuntergang, Sachen ausmalen.
23:15 Uhr. Es ist langsam dunkel und wir kommen zuhause an.
"Liebe Gäste, die Wattwanderung findet in 30 Minuten statt. Wertsachen bitte zuhause lassen und Klamotten zum dreckig werden bitte anziehen."
Enttäuschung. Ich hatte gedacht, wir seien endlich fertig.
Wir machen uns also auf.
Da stehen sie. Lachend. Ja, mittlerweile finde ich das Ganze selbst lustig.
Wir sollen mit bloßen Händen im Priel eine Garnele fangen.
10 Minuten danach: Check.
Wattwurm fangen: Check
Ellenlangen Schwur aufsagen: Check
Die Taufe.... :  Check. Und zwar in schönster Kulisse, denn das seltene Meeresleuchten war zu sehen.
Im Glauben, dass mich zuhause mein Bett erwartet, mache ich mich auf dem Weg als ich ein fetter, nasser und kalter Flatschen Watt am Ohr trifft. Ich schaue mich verdutzt um. Unsere "Opas" haben das Feuer eröffnet. Ich renne. Renne. Und renne.
Ein stechender Schmerz im Fuß. Egal. Keine Zeit verlieren. Ich spüre, dass mir mein Atem ausgeht. Ich knie mich hin und erwarte die symbolische Hinrichtung. Ich werde umgestoßen und mit Watt eingeseift.
Zum Geschmack: Watt schmeckt salzig, riecht etwas nach Schwefel und knirscht zwischen den Zähnen.
Nach gefühlt 3 Minuten purem Überlebenskampf und 3 weiteren Personen auf meinem Körper, frage ich verzweifelt: „Darf ich mich auch wehren?“
Gelächter. Sie hätten wohl nicht gefragt und einfach gemacht. Küken gegen Vorgänger wäre wohl etwas fairer (2 vs 4) aber Jelisa hat sich lieber dazu leiten lassen, mir eine trendy Frisur mit Watt zu verpassen.

Wir bekommen unsere Armbänder. Sind aufgenommen.
Was geblieben ist? 3 Tage und 3 Duschen später finde ich immernoch Watt in meinen Ohren. Das Armband sitzt gut.  Die Schnittwunde am Fuß schmerzt?
Ob das Gründe dagegen sind, diesen Tag als meinen bisher (einer der) schönsten zu nennen?
Nein. Denn ich bin jetzt ein Wattwurm.

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